Der 15. September 1985 ging als denkwürdiger Tag in die die Geschichte des Friesensports ein. Im Kreisverband Butjadingen wurden am besagten Tag die sogenannten 100:100 Meisterschaften des Friesischen Klootschießerverbandes (FKV) ausgetragen. Knapp 300 Klootschießer aus Oldenburg und Ostfriesland kämpften damals in Burhave um die Meisterehre und schickten sich außerdem an, einen uralten Rekord zu jagen.
Doch blicken wir zunächst zurück: Die Utgaster Klootschießer-Legende Gerd Gerdes flüchtete, wie die Friesensportler sagen, auf dem Schützenplatz in Esens die 475 Gramm schwere Klootkugel am 18. März 1935 sagenhafte101,50 Meter weit und galt seitdem als Weltrekordhalter. Fünzig Jahre lang blieb diese unglaubliche Weite das Maß aller Dinge. Viele Friesensportler haben seither versucht, diese Bestmarke zu knacken. Doch nur dem Mullberger Martin Siefken gelang es in den späten 60er Jahren, sich mit 100,35 Metern dem Rekord anzunähern. Bis ins Jahr 1984 sollte es dauern, bis sich der Schweinebrücker Hans-Georg Bohlken, der "Bär von Ellens", mit 100,30 Meter Zutritt zum „Club der 100-Meter-Werfer“ verschaffte.
Dann aber kam der Tag, an dem der Pfalzdorfer Harm Henkel und Hans-Georg Bohlken Friesensport-Geschichte schreiben sollten. Obwohl die Athleten mit leichtem Rückenwind gute Wettkampfbedingungen vorfanden, deutete zunächst nichts auf außergewöhnliche Ereignisse hin. Henkel hatte seine persönliche Bestleistung kurz zuvor auf starke 95,60 Meter geschraubt und ging in der Seniorenwertung als klarer Favorit an den Start. Bei seinen ersten Würfen enttäuschte er jedoch. Mit zu flach angesetzen Versuchen blieb er zunächst weit hinter den eigenen Erwartungen zurück. Schon fast der Verzweiflung nahe, stellte er das Sprungbrett nun noch niedriger ein und bereitete sich auf seinen vierten und letzten Versuch vor. Diesmal sollte alles passen. Mit schnellen Anlauf und einem kräftigen Sprung rauf auf`s Brett katapultierte er mittels blitzschneller Körperdrehung die Klootkugel in die Luft.
Gebannt folgten die Blicke der Zuschauer der optimalen Flugbahn des kleinen Wurfgeschosses. Alle wussten sofort: Der könnte passen! Plötzlich setzte ein frenetischer Jubel des ostfriesischen Klootschießeranhangs ein, als klar wurde, dass die Kugel hinter der 100 Meter Marke aufgekommen war. Lange wurde gemessen und abgeschritten, bis endlich die Weite feststand. Der Jubel kannte nun keine Grenzen mehr. Harm Henkel löschte mit unglaublichen 102,00 Metern den 50 Jahre alten, vermeintlich ewigen Weltrekord von Gerd Gerdes aus. Doch der Tag war noch nicht zu Ende. Hans-Georg Bohlken, der Bär aus Ellens, hatte seinen Junioren-Wettkampf bereits siegreich beendet und bat das Wettkampfgericht um eine weitere Wurferlaubnis. Er wollte tatsächlich versuchen, den soeben aufgestellten Rekord zu brechen. Schon seine ersten Versuche waren wesentlich weiter als die zuvor gezeigten Leistungen auf der Juniorenbahn. Dann überschlugen sich die Ereignisse: Bohlken schleuderte die Klootkugel mit einem technisch perfekten Wurf auf sagenhafte 105,20 Meter! Innerhalb von nur einer Stunde war Harm Henkel als Weltrekordhalter bereits wieder abgelöst. Ein fader Beigeschmack blieb dennoch. Schon bei der Siegerehrung gab es reichlich Gesprächsstoff. War die Meisterschaft nicht schon offziell beendet gewesen? Hätte das lokale Wettkampfgericht Bohlken überhaupt noch einmal starten lassen dürfen? Kam seine Kugel nicht sogar außerhalb des vorher festgelegten Wurfkorridors auf und war somit ungültig? Warum durfte Bohlken ein anderes Sprungbrett benutzen? Fragen, die aufgrund eines Auricher Protestes letztendlich ein Schiedsgericht beantworten musste, dass zwei Tage nach der Veranstaltung tagte. Nach hitzigen Diskussionen stimmten die Delegierten schließlich mit 10:9 Stimmen auf Anerkennung des Bohlken-Rekordes. Doch auch wenn Henkel sich nur eine Stunde lang als Weltrekordhalter fühlen durfte, bleibt und ist er einer der größten Friesensportler aller Zeiten. Mit 20 FKV-Einzelmeister-Medaillen, davon 13 Goldene hat er sich seinen Ehrenplatz in der Hall-of-Fame des Friesensports längst gesichert. Mittlerweile ist der Norder Stefan Albarus, der im Laufe seiner Karriere über 20 Mal die 100-Meter-Marke knackte, der alleinige Weltrekordinhaber. Er erzielte bei den Mehrkampf-Meisterschaften im Juni 1996 in Großheide die neue Höchstmarke von 106,20 Meter! Albarus hat aber nicht nur mit diesem Rekordwurf Sportgeschichte geschrieben. Vor allem bleibt sein Europameistertitel aus dem Jahr 2000 in Erinnerung, bei dem es ihm gelang, gleich drei Würfe über die magische 100-Meter-Distanz zu bringen. Das ist vorher und nachher keinem Friesensportler mehr gelungen. In Anbetracht der heutigen Weiten die erzielt werden, die nur noch selten jenseits der 90-Meter-Marke liegen, dürfte Albarus in Großheide nun wohl wirklich einen Rekord für die Ewigkeit aufgestellt haben. Text: Holger Wilken